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34. Jahrgang InternetAusgabe 2000
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1968 

 

Nachbetrachtung aus einem alten Heft der SvZ (1978)

Das Ende des bismärckischen Zeitalters

Von David Hartstein

 Der Spiegel ist doch manchmal noch ein Spiegel der Welt. Nicht so sehr dank seines Herausgebers, dem ins Hanseatische verschlagenen Praeceptor Saxoniae mit seinem hannöverschen Abscheu vor allem Rheinbündischen. Sondern vielmehr wegen der Lichtblicke, die ein Organ wie der Spiegel manchmal als Nachrichtenmagazin wahrnehmen muß – wenn auch auf viele Seiten des Heftes nicht nur verteilt, sondern auch hinter und zwischen Anzeigen versteckt.

 In diesem Magazin (Lager) findet sich diesmal eine Titelgeschichte, die einen ›Artikel‹ begutachtet, den sich so mancher Leser des Nachrichtenmagazins wünscht, nämlich einen Anstoß, der selbst denen, die seine Verwirklichung im Grundsatz wünschen, aber Unbehagen bereitet – denn es handelt sich um ›heiße Ware‹: die Absichtserklärungen des Hamburger Regierenden Bürgermeisters zur künftigen Handhabung des elenden ›Radikalenerlasses‹.


“...ich rede von der Partei der sogenannten Vertreter der Nationalität in Deutschland, von jenen falschen Patrioten, deren Vaterlandsliebe nur in einem blödsinnigen Widerwillen gegen das Ausland und die Nachbarvölker besteht und die namentlich gegen Frankreich täglich ihre Galle ausgießen.”

Heinrich Heine

 

 Zeit wurde es. Dennoch schien den verantwortlichen Sozialdemokraten vor allem in der Fraktion ein solcher Vorstoß zur falschen Zeit gekommen zu sein. Dabei weiß mittlerweile jeder, daß all die Bestimmungen und Vorschriften, die mit dem Hamburger Senatsbeschluß und dann mit dem Minsterpräsidentenbeschluß des Jahres 1972 einhergingen, schon lange unzeitgemäß geworden sind. Daran ändert auch die Tatsache nichts, daß sich sogar das oberste Verfassungsorgan mit der ›Ausdeutung‹ jenes Beschlusses der anderen Verfassungsorgane (Bundes- und Länderminister) befaßte.

 Nicht nur führende Sozialdemokraten fragten sich überrascht, wie sie sich zu diesem von Klose vorgelegten »Beitrag zur Meinungsbildung im Parteivorstand« stellen sollten. Das fragte sich zum Beispiel der Parteivorsitzende Willy Brandt, der seit 1976 jedem, der es unbedingt hören will, zu verstehen gibt, daß er bei seiner Teilnahme am Extremistenbeschluß 1972 einen Fehler begangen hat. Das fragte sich auch der alte und neue Ministerpräsident von Hessen, Holger Börner, dem freilich Hans-Ulrich Kloses Überlegungen, Absichten und für künftige Verfahrensweisen im Stadtstaat Hamburg dargelegten Grundsätze gar nicht so verwegen vorkamen.

 Rührte solches Zögern, das Rügen und Warnen drumherum (wegen falscher ›Taktik‹ und dergleichen) etwa nur daher, daß Kloses öffentliches Eintreten für eine völlig neue Behandlung des ›Radikalismus‹ und ›Extremismus‹ in den Institutionen des westdeutschen Staates ausgerechnet ›eine Woche zu früh‹, nämlich vor den hessischen Landtagswahlen, politisch ›relevant‹ geworden war? Hätte Klose etwa besser wie weiland der unselige Albert Osswald verfahren sollen, mithin also die praktischen Konsequenzen erst eine Minute nach Ende der Wahlen ziehen wie 1976? Woher rührte die Unsicherheit der führenden Sozialdemokraten angesichts der öffentlichen und praktischen Bewältigung eines Tatbestandes, den sie lieber vorgestern als heute aus der Welt geschafft hätten?

 Schließlich haben doch Kloses öffentliche Äußerungen, (aus denen hervorgeht, daß Hamburgs SPD-Senat die neuen Grundsätze verwirklichen wird), Holger Börners sozialliberaler Koalition in Wiesbaden nicht geschadet. Konnte dies etwa keiner in der SPD-Führung voraussehen? Haben etwa die führenden Persönlichkeiten der Sozialdemokratie so wenig Zutrauen zu ihren eigenen Einsichten? Fehlt ihnen das Vertrauen in die Einsicht der Wähler, von denen sie in Hessen wiedergewählt werden wollten, nachdem sie seit 1972 so viele verprellt hatten? – Ohne daß ihnen daran jemand die Verantwortung eindeutig zuschieben könnte?

 Es wird wohl kaum allzu weit von der Wirklichkeit entfernt sein, wenn man feststellt: es mangelte der Sozialdemokratie an Zuversicht, daß am 21. Oktober 1978 in der Bundesrepublik ein Sozialdemokrat die Richtlinien der Politik bestimmen kann...

    Denk` ich an Bismarck in der Nacht...

    “Ja, die Überreste der Nachkömmlinge der Teutomanen von 1813, die bloß das altdeutsche Narrenkostüm gewechselt und sich die Ohren etwas verkürzen ließen, ich haßte sie und bekämpfte sie zeit meines Lebens, und jetzt, wo das Schwert der Hand des Sterbenden entsinkt, erquickt ihn die Überzeugung, daß ihnen ganz sicher der Kommunismus den Garaus macht, nicht mit einem Keulenschlag, nein, mit einem bloßen Fußtritt; wie man eine Kröte zertritt, wird der Riese sie zertreten. Aus Haß gegen die Nationalisten könnte ich schier die Kommunisten lieben. Wenigstens sind sie keine Heuchler, die immer die Religion und das Christentum im Munde führen; die Kommunisten, es ist wahr, besitzen keine Religion (einen Fehler muß der Mensch doch haben), sie sind sogar Atheisten (was gewiß eine große Sünde ist), aber in ihren obersten Prinzipien huldigen sie einem Kosmopolitismus, einer allgemeinen Völkerliebe, einem Weltbürgertum aller Menschen, welches ganz übereinstimmend ist mit dem Grunddogma des Christentums, so daß sie in Wesen und Wahrheit viel christlicher sind als unsere deutschen Maulchristen, die das Gegenteil predigen und üben.”

    Heinrich Heine – aus dem Pariser Elend

      

     Wer, wie Heine, sein Leben lang unter dem deutschen ›Nationalismus‹ gelitten hat, dessen Haß kann verstehen, wer als deutscher Mensch unter deutschen Verhältnissen (erst recht jenen der Bundesrepublik Deutschland) aufgewachsen ist.

     So, wie Heine den Beschlüssen des ›Deutschen Bundestages‹ zum Opfer gefallen und aus dem, was damals Deutschland zu sein beanspruchte, ausgebürgert worden ist, so ist auch das ›junge Deutschland‹ der 60er und frühen 70er Jahre aus dem westdeutschen Staat ausgebürgert worden. Einzig und allein das Bestehen einer republikanischen ›freiheitlichen und demokratischen Grundordnung‹ bewahrte diesen Generationen das Maß an Grundrechten, mit dem sich hierzulande die meisten Staatsbürger bescheiden. Das Recht aber, dem ›Staate‹ zu dienen, wurde manchen von ihnen vom deutschen Institutionalismus verwehrt.

      In solchem zwiespältigen Zustand (solcher Schizophrenie) konnte gedeihen, was sich selbst als ›Gegenkultur‹ seit der ›Studentenrevolte‹ verstanden und mißverstanden hat. Was die Träger und Wahrer der altdeutschen und neudeutschen ›Kultur‹ aus den Institutionen verbannten, verfiel zu einem ›Lebensraum‹, dessen Bewohner diesem Gemeinwesen und seinem Gemeinwohl nicht nur gleichgültig, sondern auch mit Haß (Wut) begegneten. Das ›junge Deutschland‹ ging ins innere Exil und wurde dort mit allen Mitteln, dessen sich der deutsche Institutionalismus bedienen kann, festgehalten. Was daraus wurde, ist heute deutsches Elend. Und elend ist auch der Haß, zu dem die im Ghetto der ›Gegenkultur‹ lebenden Menschen getrieben wurden.

     Denn: wenn die Wurzel allen ›Radikalismus‹ nicht mehr der Mensch und seine Bestimmung ist, wie sie Heine vorschwebte, sondern die Ohnmacht der einzelnen Menschen, die freie politische und industrielle Institutionen schaffen wollen, dann können junge Deutsche, die sich solche Bestrebungen zu eigen machen, zu ›Radikalen‹ werden, die dem Gemeinwesen (nicht nur der Bundesrepublik Deutschland) gefährlich werden. Sie gelten als ›gemeingefährlich‹ und werden zur kriegerisch verwendeten Waffe in der Propaganda derer, die schon immer die Entwicklung eines freien Gemeinwesens unterbinden wollten.

     Das ist das Wesen des ›Extremistenproblems‹ in der Bundesrepublik Deutschland. Das war vor allem auch das Wesen des ›Sozialistenproblems‹, das der ›Realpolitiker‹ Bismarck am 21. Oktober 1878 mit der Durchführung der »Gesetze gegen die gemeingefährlichen Bestrebungen der Sozialdemokratie« für gelöst hielt. – Wie bekannt, hat sich Bismarck geirrt! Diejenigen, die heute an Bismarck denken, wenn sie die internationale Politik Helmut Schmidts verstehen wollen, haben noch gar nicht begriffen, daß Bismarck sich in allem geirrt hat, was er zeit seines so eindrucksvollen Wirkens als ›eiserner Kanzler‹ für die ›Kunst des Möglichen‹ hielt.

     Diese Einsicht fehlt natürlich in den berüchtigten Überlegungen des CSU-Vorsitzenden Strauß, die er seinerzeit in Sonthofen angestellt hat. Wenn er sich dies eines Tages vergegenwärtigen muß, wird er auch verstanden haben, daß sich hier eine ›chilenisch‹ zu nennende Strategie als ohnmächtig erwiesen hat. Dann aber wird er in Haß (Wut) ausbrechen. Und so, wie die Verhältnisse im Westen Deutschlands und in Europa beschaffen sind, wird das die Stunde der Gründung der ›Vierten Partei‹ sein – einer Partei, die nur zur Zerrüttung dessen beitragen kann, was sich im Westen Deutschlands als Gemeinwesen trotz der Weltwirtschaftskrise bislang erhalten hat.

     Und dennoch: dieser Partei, wenn sie sich dereinst mit Pauken und Trompeten selbst aus der Taufe heben sollte, dürfen all jene, die im Westen dieses Landes und in Europa ein freies und friedliches Gemeinwesen zu ihrem obersten Ziel gemacht haben, nicht mit Haß begegnen.

     Die Partei der bismärckischen ›Realpolitik‹, wie immer sie auch sonst noch außen- oder innenpolitisch gekennzeichnet werden mag, jener Partei, die seit der französischen Revolution das Schicksal der Menschen in Deutschland und Europa nicht zuletzt mit Eisen bestimmen konnte, darf niemals wieder Erfolg damit beschieden sein, aus denen, die freie politische und industrielle Institutionen schaffen wollen, eine ›gemeingefährliche‹ Gegenkultur zu machen (denn schon die alte Sozialdemokratie unter Bismarck mußte das werden), noch solche, die fähig sind, sich selbst zu verraten wie die sozialdemokratische Führung am 4. August 1914.

     Zu einem Handeln, das alle Regungen des Hasses (der Wut) bis hin zu dem, was neuerdings geistiger Bürgerkrieg genannt wird, überwindet, müssen gerade jene fähig werden, die für sich und für alle unter den heutigen bedrohlichen Gegebenheiten in der ›Weltpolitik‹ an der Notwendigkeit und Vernünftigkeit eines freien Gemeinwesens festhalten. Alles andere wäre gefährliche Kinderei.

     Vernunft und Zuversicht sind notwendig für eine Politik, die möglich machen kann, daß die Menschheit das Jahr 2000 erlebt. Vernunft und Zuversicht scheinen auch die treibenden Kräfte des Unterfangens zu sein, das sich Giscard d`Estaing und Schmidt vorgenommen haben. Enge deutsch-französische Zusammenarbeit auf allen Ebenen zur Überwindung aller Krisen der Weltgemeinschaft hat nicht nur mit bismärckischer ›Realpolitik‹ nichts mehr zu tun. Die Schaffung einer Neuen Weltwirtschaftsordnung ist vielmehr alles andere als die Erhaltung des ›Status quo‹, die ein Bismarck und alle seine Verehrer für die ›Kunst des Möglichen‹ halten. – Aber was weiß ein preußischer und sonstiger Junker schon von dem, was möglich ist?

      Der 21. Oktober 1978, der hundertste Jahrestag der ›Sozialistengesetze‹, sollte für alle, die sich in die Tradition des ›gemeingefährlichen Gewalthaufens‹ zu stellen wagen, ein Anlaß sein, sich zu fragen, was jener Bewegung zur Befreiung von der Lohnarbeit (trotz des Falls der Sozialistengesetze) abhanden gekommen ist. Wie viele Erklärungen sich auch finden lassen für den ›Wandel‹ der gesellschaftlichen Bewegung, deren freien politischen Ausdruck ein Bismarck mit den ›eisernen‹ Mitteln unterdrücken wollte, die ihm das kaiserliche ›Deutschland‹ zur Verfügung stellte, eines liegt ganz klar zu Tage: Bismarck hat allen Führern und Anhängern dieser Bewegung die feste Gewißheit ausgetrieben, daß sein System nicht nur keine Zukunft hat (was jeder behaupten kann), sondern daß es ihr Denken, Fühlen und Handeln (ihre Beweg-gründe) sein müssen, die den Beweis für diese Behauptung in der Wirklichkeit, praktisch geben müssen.

     Vor, während und nach dem Ersten Weltkrieg hat die Sozialdemokratie sich selbst Lügen gestraft. Das schätzen Leute wie Strauß an ihr. Heute geht es darum, ob die führenden Sozialdemokraten, die in der Bundesrepublik politische Verantwortung und Macht innehaben, sich ihrer vernünftigen Ziele gewiß sind und wissen, daß sie diese Ziele erreichen können.

      Der Präsident der Französischen Republik hat jüngst bei einer Veranstaltung für Intellektuelle, der er das Motto ›Vorbereitung des Jahres 2000‹ geben ließ, eine Äußerung getan, die ebenso wie die Bemühungen des Hamburger Bürgermeisters vor allem einen Zweck erfüllen kann: die Scherben zu beseitigen, die die Ereignisse des Jahres 1968 und ihre noch heute andauernden Wirkungen angerichtet haben. Was damals im Scheitern des europäischen Frühlings zunichte wurde, läßt sich nicht mehr ungeschehen machen. Doch lassen sich die Wirkungen, die von den Geschehnissen des Jahres 1968 ausgegangen und noch heute zu spüren sind, durchaus beseitigen. Das wäre auch eine ›Vorbereitung des Jahres 2000‹.

     Was Giscard vorschweben mag (»Das Problem Cohn-Bendit wird nicht ohne Lösung bleiben«), das läßt sich auch in der Bundesrepublik verwirklichen: die Lösung der Probleme (und des Problemdrucks), die durch die Studentenrevolte entstanden und durch die Antwort des deutschen Institutionalismus auf die Herausforderung durch den jungen deutschen ›Radikalismus‹ verschlimmert worden sind.

     Niemand darf vergessen, daß die Zerrissenheit der ›beiden Kulturen‹ in Westdeutschland ihren Ursprung in einer ›polizeilichen‹ Fehlleistung hatte, die als Mord empfunden wurde. Niemand darf vergessen, daß der Bruch mit dem Gemeinwesen BRD für die revoltierenden Studenten mit einem Mord-Anschlag begann. Niemand darf aber auch vergessen, daß sich den Deutschen in West-Berlin und anderswo der Eindruck aufdrängte, als hätten die ›Studenten‹ einen Anschlag auf das Gemeinwesen im Sinn.

      Gedenke des 2. Juni 1967

        Das Problem Cohn-Bendit wird nicht nur in Frankreich, sondern auch in der Bundesrepublik eine Lösung (Entspannung) finden, wenn die Cohn-Bendits nicht nur eine andere Sprache als die des Anschlags zu sprechen, sondern auch anders zu denken und zu handeln lernen. Zehn Jahre Erfahrungen müßten eigentlich ausreichen für die Einsicht, daß die Sprache des Anschlag und das ›subversive Handeln‹ nicht zur Vorbereitung des Jahres 2000 geeignet sind.

       Es bleibt die Einsicht, daß die Cohn-Bendits, Dutschkes und Biermanns in Europa Bürger sein können. Es bleibt die Zuversicht, daß die Cohn-Bendits, Dutschkes und Biermanns wiedereingebürgert werden. Zur Vorbereitung der Menschheit des Jahres 2000 werden alle gebraucht.