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34. Jahrgang InternetAusgabe 2000
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Schröder
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2. Brief
Identität 1981

Sozialdemokratie

 

Peter G. Spengler
Oeder Weg 23
60318 Frankfurt am Main
 

 

10. August 1999

 

 


Herrn
Gerhard Schröder
Willy-Brandt-Haus
Wilhelmstraße 161
10963 Berlin
 
 


Schwierige Zeiten und Neue Leere


Lieber Gerhard Schröder,


ich weiß es sehr zu schätzen, daß Du Dir vor Antritt Deines Urlaubs noch einmal die Zeit genommen hast, mir einen Brief zu schreiben und dabei zu helfen, der Aufforderung, »die Politik der Bundesregierung zu erklären« besser unterrichtet gegenüberzutreten.

Da ich nicht so genau unterscheiden kann, in welcher Funktion Du mir geschrieben hast, als Bundeskanzler gewiß zuallererst, aber dennoch, mit der Absenderanschrift Willy-Brandt-Haus, auch als Vorsitzender der Sozialdemokratischen Partei Deutschlands, ziehe ich es vor, um mögliche Verwechslungen auszuschließen, Dich in Deiner Serienbrieffunktion anzureden; das ist ja auch sicherlich eine der elegantesten Briefanredeformen, in der das Massendemokratische und das zutiefst Individuelle der Briefkultur sich aufs glücklichste verbinden.

Ich greife hoffentlich nicht zu verwegen in die Geschichte zurück, wenn ich die Beschreibung der Aufgabe der von Dir geführten Regierung, nämlich Deutschland zu erneuern, im Lichte des Vergleichs betrachte, den Du mit dem größten Niedersachsen, der ja eigentlich Hochsachse war (und der in seinem Bildnis mir jetzt in diesem Augenblick auf die Tastatur schaut), vor drei Jahren so treffend gewählt hast:

 

»Ich vergleiche mich natürlich gern mit diesem bedeutenden Niedersachsen, und zwar um so lieber, seit ich auch seine wirtschaftspolitischen Überlegungen und Vorstellungen kenne.«

... »Der eigentliche und hauptsächliche Weg zur Verbesserung der Staatsfinanzen ist nach Leibniz aber der, eine vorausschauende Industriepolitik zu betreiben, das heißt die Gründung neuer Produktionsanlagen (Maunfakturen) zu unterstützen.«

Ich nehme an, daß Du Dich an diese Auslassungen anläßlich der Feier zu Leibnizens 350stem Geburtstag noch erinnern kannst. Weder in der bislang ja noch kurzen Tätigkeit Deiner Regierung noch in dem den Parteigenossinnen und -genossen zugegangenen Schreiben ist aber zu erkennen, daß Du als Richtliniengeber deutscher Politik Dich anschickst, dem Vergleich mit dem »bedeutenden Niedersachsen« Leibniz standzuhalten. Es wäre wahrscheinlich auch zu viel verlangt, von dem Niedersachsen Schröder die Bescheidenheit zu erwarten, wenigstens nur einem bedeutenden Vorbild nachzueifern.

Wenn man die von Dir aufgeführte zweite Aufgabe des sogenannten »Zukunftsprogramms 2000« aufmerksam liest, nämlich »die notwendige Entlastung der Unternehmen« und dann Deine Versicherung zur Kenntnis nimmt, daß dies »keineswegs ein Geschenk an die Wirtschaft, sondern die Anpassung der Steuersätze an ein internationales wettbewerbsfähiges Niveau« sei und nur durch Steuerentlastung Investitionen möglich seien, dann muß der von Dir ausgesprochene und gerade eben angeführte Leibnizsche Weg in den letzten drei Jahren wieder in Vergessenheit geraten sein.

Denn niemand wird einem nachdenklichen Sozial- oder Christdemokraten erklären können, wie sich die Staatsfinanzen verbessern sollen durch Steuerentlastung von solchen (Geld-)Kapitalvermögens- und Produktionsmittelbesitzern, die ohnehin in den letzten 10 Jahren immer weniger von der Gesamtsteuerlast des Staates getragen haben. Denen ist es vielmehr gelungen, den Teil des akkumulierten, aber nicht mehr rentabel in produktive Anlagen zu investierenden Kapitals, an der internationalen Spielbank als GigaByte-Chips mit vielen Nullen arbeiten zu lassen.

Dem tatsächlich Steuern zahlenden Mittelstand, vom Handwerk bis zur Werkzeugmaschinenfirma bis zum Konsorten eines großen Infrastruktur- oder Industrieprojekts irgendwo auf diesem Globus ist aber in erster Linie mit der finanziellen Erschließung neuer Märkte gedient und erst unter ferner liefen mit abgesenkten Steuern.

Realwirtschaftlich tätigen Unternehmern wird gewiß das Vergnügen über sinkende Steuern abhanden kommen, wenn sie schließlich trotzdem mit schrumpfenden oder wegbrechenden Märkten zu kämpfen haben. Sie werden ihr Schicksal dann umso weniger verstehen, je mehr ihnen die Deregulierungspropaganda der letzten 20 Jahre den Blick auf die Realwirtschaft als Ganzes so vernebelt hat, daß sie die Gemeinwohl stiftende Aufgabe des Staates, Wirtschafts- und Industriepolitik für zukünftige Wirtschaftstätigkeit zu erarbeiten, nicht mehr wahrnehmen können und vom Staat nurmehr erwarten, ihnen einen größeren Teil der bereits erwirtschafteten Erträge zu überlassen oder zurückzugeben.

Soweit die Regierung unter Deiner Verantwortung im Nebel dieser Propaganda und auf der hektischen Suche nach Modernität der Devise »Nur durch Steuerentlastung sind Investitionen möglich« ihren Weg zur Schaffung neuer Arbeitsplätze zu finden meint, wird von einer »Industriepolitik«, so wie sie Leibniz verstanden hat, kaum mehr viel übrigbleiben.

Leibniz hat als erster Geist der Neuzeit überhaupt erkannt, daß nur Steigerung des physischen (und nicht etwa des in Geld ausgedrückten) gesamtgesellschaftlichen Arbeits- und Leistungsvermögens durch Förderung von Entdeckungen und Erfindungen und durch deren Anwendung als Technologien höherer, notwendige physische Arbeit einsparender Produktivität Fortschritt und Glück befördern kann. Aber nicht das allein reicht aus, der Form der Republik zu genügen. Hinzutreten muß bei den Volkserziehern, Politikern und Verwaltern der öffentlichen Angelegenheiten unter anderem noch dies:

»Daher ist jede Wahrheit, jedes Experiment oder jede Theorie, die bewunderungs- und betrachtungswürdig sind, selbst wenn sie sich nicht rechnerisch ausdrücken ließen (was allerdings selten vorkommt) und wenn sie auch nicht gleich Gewinn, sondern nur mehr Licht in die Wissenschaft brächte, als ein neuerfundener Spiegel der Schönheit Gottes von unschätzbarem Wert, kostbarer als der kostbarste Diamant zu erachten. Und daher muß auch das, was ehrliche, gottesfürchtige und verständige Leute an Mitteln erhalten, um die Naturkunde und die realen Künste zu vervollkommnen, für die frömmste Sache und Stiftung zur unerschöpflichen, wahren Ehre Gottes gehalten werden.« (Denkschrift über die Einrichtung einer Sozietät...)

Das Abhandenkommen einer »Industriepolitik« verwundert auch nicht bei einer Regierung, die in Deutschland (und groteskerweise eben nur da) die bislang höchstentwickelte Technologie der Energieerzeugung, die Kernenergie, abschaffen will, obwohl diese Technologie mit ihren Produkten nicht nur weltweit in riesigem Maßstab benötigt wird, sondern auch weltweit in der fortgeschrittensten und sichersten Ausstattung gerade in Deutschland weiterentwickelt worden ist, neue Arbeitsplätze geschaffen hat und noch viele mehr schaffen könnte.

...
Meines Erachtens zeigt sich hier im Widerspruch zwischen dem Selbstverständnis des niedersächsischen Ministerpräsidenten (von 1996) und dem Kanzler der mésalliance von SPD und Grünen bzw. dem Vorsitzenden der von Oskar Lafontaine übernommenen Sozialdemokratischen Partei Deutschlands das Ergebnis eines schwerwiegenden Wandlungsprozesses der Sozialdemokratie in den letzten 20 Jahren, gegenüber dem die Verwandlung der heutigen SPD in eine modisch-moderne Partei des »Dritten Weges« lediglich Peanuts wäre. In diesem Zusammenhang besehen werfen die einführenden Worte vor der Alfred-Herrhausen-Gesellschaft bei ihrem diesjährigen Forum durchaus erhellende Schlaglichter auf den Bedingungsrahmen politischen Handelns, in dem sich der Bundeskanzler Schröder zurechtfinden muß:

»Ein bißchen merkwürdig ist es schon, wenn man an seine eigene Historie denkt, daß ausgerechnet jemand wie ich, der in den 70er Jahren (als die Krumbeins noch Deine Thesenpapiere erarbeiteten; Anm. von mir) eher mit der Planung der Revolution beschäftigt war, nun die Perspektiven des Kapitalismus im 21. Jahrhundert erläutern soll.«
 

An einem der wichtigsten Wendepunkte der Entwicklung der Nachkriegssozialdemokratie, als es um die Selbstvergewisserung ihrer geistigen, sozialen und moralischen Grundlagen ging, im Herbst 1981 schrieb Richard Löwenthal insbesondere dem Parteiführer Willy Brandt ins Stammbuch (vollständig in: Identität 1981)

»Brandt hat in seiner Rede gefragt, warum die alternativ orientierten Jugendlichen der SPD wie den anderen Parteien davonlaufen, obwohl ihre Ziele, wie er meint, den sozialdemokratischen Zielen nicht widersprechen. Ich glaube, er irrt hier: Die humanen Motive widersprechen nicht denen der Sozialdemokratie - wohl aber die politischen oder vielmehr antipolitischen Ziele. Die Sozialdemokratie ist ein Produkt der Industriegesellschaft und ein Vorkämpfer der Demokratie in Staat und Gesellschaft. Sie kann mit denen, die die moderne Welt für einen weltgeschichtlichen Irrweg halten, keinen Kompromiß schließen: Sie muß klar sagen, daß die menschenwürdige Versorgung der Milliarden Menschen, die heute die Erde bevölkern, ohne die Industriegesellschaften und ihre berufliche Arbeitsteilung unmöglich und daß alle Alternativen dazu reaktionäre Utopien sind. Sie darf sich auch nicht in der Illusion wiegen, die Bildung von Inseln am Rand der Gesellschaft sei eine Form der Partizipation: Partizipation heißt Teilnahme, Beteiligung an einem größeren Ganzen; Aktivität von Gruppen, die sich vom Ganzen der Gesellschaft abkapseln, ist keine Partizipation. Die echte Partizipation eines Teiles der »Grünen«, etwa in der Form von ökologischen Bürgerinitiativen als praktische Kommunalpolitik kann in der Tat zu »mehr Demokratie« beitragen. Aber die Abkapselung vieler anderer vom Ganzen führt auch zur Abkapselung von der Demokratie - und oft zur Weigerung, sich ihren Gesetzen zu unterwerfen. Es ist kein Zufall, daß die Gleichgültigkeit gegenüber Rechtsnormen im alternativen Lager so häufig und keineswegs auf die bösartigen Gewaltanbeter beschränkt ist. Das Recht ist, ebenso wie die Arbeitsteilung, eines der grundlegenden Bindemittel der Gesamtgesellschaft - und wer in seiner Grundhaltung aus dieser aussteigt, wird leicht auch jenes geringschätzen.
Die Auseinandersetzung, die heute die Integrationsaufgabe der Sozialdemokratie erschwert, ist also nicht die zwischen einem zum Teil konservativ gewordenen Stamm von Arbeiterwählern - die ja in der Tat dank der Leistungen sozialdemokratischer Politik heute viel zu konservieren haben - und einer kritischen Jugend, die sich vorwiegcnd aus den »neuen« Gesellschaftsschichten rekrutiert. Sie ist der Konflikt der Haltungen und Interessen zwischen den »Aussteigern« und der Masse der Berufstätigen aller Art, also der Arbeiter, der Angestellten, der Selbständigen und des Großteils des öffentlichen Dienstes - mit der teilweisen Ausnahme von Lehrern, die vor ihrer gesellschaftlichen Erziehungsaufgabe resigniert haben, und von Pfarrern, die in der verständlichen Konzentration auf die Rettung gefährdeter Seelen ihre gesellschaftliche Verantwortung hintansetzen. Eine Partei, die für die Probleme und Motive der Aussteiger Verständnis zeigt, kann gewiß hier und da einen Teil von ihnen integrieren, aber nur wenn sie ihrem Weltbild mit klaren Argumenten entschieden entgegentritt. Eine Partei, die in dieser Auseinandersetzung eine klare Stellungnahme vermeidet, kann nur sich selbst desintegrieren.«
...
Die Auseinandersetzung mit den »grünen« und »alternativen« Jugendlichen muß zwischen konkreten, konstruktiven Beiträgen zur Verbesserung der Umweltpolitik, zur Humanisierung der Arbeitsbedingungen und zur Korrektur anderer Mängel unserer Gesellschaft einerseits und der Ideologie und Praxis eines Aussteigertums, das der arbeitsteiligen Industriegesellschalt feindlich ist und vom demokratischen Prozeß nichts wissen will, klar unterscheiden. Wenn die Sozialdemokratie die konstruktiven Beiträge ermutigt, aber die Grenze zu den Aussteigern mit unmißverständlicher Schärfe zieht, wird sie keines der grundlegenden Elemente verlieren, die das nach Godesberg entstandene breite soziale Bündnis getragen haben. Wenn sie diese Grenzziehung versäumt, wird sie ihre Basis nicht nur unter den Facharbeitern, sondern in allen berufstätigen Schichten untergraben. Die Zukunft der Sozialdemokratie hängt von der klaren Herausstellung ihrer Identität als einer Partei der demokratischen und sozialen Fortentwicklung der arbeitsteiligen Industriegesellschaft ab.«


Auf diesen klugen Genossen wollte damals niemand hören, nicht Willy Brandt, schon gar nicht Oskar Lafontaine. Und es ist ja bei den Parteitagen nach dem Verlust der Regierungsmacht, mit Oskar Lafontaine als Leitfigur, grandios gelungen, die Partei im Fortgang der Versuche, gerade das von Löwenthal beschriebene der Industriegesellschaft feindliche Element zu integrieren, die Sozialdemokratie als soziales Bündnis wie auch als moralische Wertorientierung erfolgreich zu desintegrieren. Nur damit, so muß nach dem Ende seiner Karriere als Volkserzieher von Oskar Lafontaine resümiert werden, hat er Erfolg gehabt; mit sonst (leider) nichts!

Daß die Rahmenbedingungen des seit Ende der achtziger Jahre faule Blüten treibenden spekulativen Empirismus (auch als Kasinokapitalismus bekannt) diesen Prozeß des Verfalls miterzwungen haben, zeigt jedoch nur, daß selbst die aktiven Träger des Industriekapitalismus mittlerweile auch so sehr von der Gier nach fiktivem Kapital erfaßt worden sind, daß sie keine selbstbewußten Gedanken über ihre eigenen Interessen mehr fassen können.

...
Ich konnte mich nach dem Abgang von Helmut Schmidt und der Abfuhr, die die Einsichten Richard Löwenthals in der Partei erfahren haben, dieser Partei als nicht mehr zugehörig ansehen und habe meine Mitgliedschaft einschlafen lassen. Erst mit der Bestätigung der Kanzlerkandidatur von Gerhard Schröder, dem heutigen Pendant zum Leibnizschen Genius, nach den Wahlen in Niedersachsen hielt ich es für angezeigt, mit dieser Partei noch einmal einen Versuch zu wagen.

Aber ich kann bislang nicht finden, daß die Sozialdemokratie sich von dem Siechtum, das sie seit der Wende zu den achtziger Jahren ergriffen hat, zu erholen beginnt. Vielmehr befürchte ich eher, daß Dein gemeinsamer Essay mit Tony Blair nur die Vorlage dafür liefert, einen siechen Gesellschaftskörper wie die SPD mit benebeltem Verstand auf eine Weise zu »modernisieren«, die sie für die »winds of change« (des veröffentlichten Zeitgeistes) allzeit anpassungsfähig zurechtschneidert und demgemäß eigentlich nur für das verwöhnte Massenkommunikationspublikum unterhaltsamer darbietet. Ich vermute, daß das zuwenig ist.

Denen in der Sozialdemokratie, die Euer gemeinsames Papier des »Neoliberalismus« verdächtigen, müßte man die Gegenfrage stellen, wie es dazu kommen konnte, daß ein Gerhard Schröder ein solch dürftiges Papier mitzeichnet, um gleich darauf zusammen mit New Labour eine verheerende Wahlniederlage zu kassieren. »Ich habe auch verstanden«, nämlich dies: Während Mrs. Thatcher Widerspenstige mit der Handtasche aus dem Weg wirbelte, sitzt Tony Blair mit seinen Partnern am Schachbrett beim Tee und grinst den Partner so lange an, bis er umfällt.

Es könnte mir zum Thema Modernisierung der Sozialdemokratie und der kapitalistischen Gesellschaft in Deutschland und darüber hinaus noch einiges einfallen; aber ich möchte Dich nicht mit einem zu langen Brief langweilen. Und außerdem machen sich schon zu viele Parteimitglieder die Mühe, mit diesem »Modernisierungspapier« etwas anzufangen, das vielleicht von »doctors« abgefaßt sein mag, aber wahrlich keinen »spin« hat.

Ich möchte Dir vielmehr vor allem wünschen, daß uns alle auf Dauer der Vergleich mit Leibniz mehr erheben möge als der Vergleich mit einer ganz anderen Gestalt, die mir in den letzten Monaten häufiger in den Sinn gekommen ist, wenn ich wie viele andere nicht so recht schlüssig daraus wurde, auf welchem Klavier der Inhaber der Richtlinienkompetenz im Kanzleramt spielt.

Mit freundlichen Grüßen

Peter G. Spengler


Ob wir je erfahren werden, was er spielt?

Ob er es selber weiß?