Die endlose Türkei-Debatte
Ein Dossier - zusammengestellt von Arno Tausch (*)
Wir schreiben den 1.1.1958, Theodor Heuss ist Bundespräsident der BRD, Konrad Adenauer ist Bundeskanzler. Das muslimisch geprägte Departement Algerien, in dem ein
blutiger Kolonialkrieg ausgetragen wird, und in dem 400.000 Mann französische Armee gegen die Aufständischen kämpfen, wird an diesem Neujahrstag ebenso wie alle anderen
Departements der französischen Republik Vollmitglied der europäischen Wirtschaftsgemeinschaft EWG. Keine Rede davon, dass „59 Prozent der Bundesbürger“ der BRD sich damals dafür
ausgesprochen hätten, über den EWG-Beitritt dieses Departements, in dem Krieg herrscht und mehrheitlich Muslime - die Kolonisierten - wohnen, eine Volksabstimmung
durchzuführen. Damals gab es - soweit erinnerlich - auch keine Unterschriftensammlung gegen den Vollbeitritt der Kolonie Algerien in die EWG, zumindest keine von der CDU/CSU initiierte
Unterschriftensammlung. Kolonisierte Muslime, in einem französischen Departement, in dem 400.000 Mann einen grausamen Krieg gegen die Aufständischen führen, sind also
kein Problem in der EWG/EU - sie gehören zu deren Gründungsgeschichte.
Wir schreiben den 12.09.1963. Karl Heinrich Lübke ist Bundespräsident der BRD, Konrad Adenauer erlebt die letzten Tage seiner Kanzlerschaft, und in Ankara wird der Vertrag von
Ankara unterzeichnet. Die Europäische Wirtschaftsgemeinschaft (EWG) hat 1963 mit der Türkei das sogenannte „Abkommen von Ankara“ zur Gründung einer Assoziation geschlossen. Das
Abkommen enthält in Art. 28 bereits eine Beitrittsperspektive: „Sobald das Funktionieren des Abkommens es in Aussicht zu nehmen gestattet, daß die Türkei die Verpflichtungen aus dem
Vertrag zur Gründung der Gemeinschaft vollständig übernimmt, werden die Vertragsparteien die Möglichkeit eines Beitritts der Türkei zur Gemeinschaft prüfen.“ Das ist - völlig emotionslos
berichtet - 6 Jahre nach dem Wahlsieg von Präsident Adnan Menderes, drei Jahre nach einem Militärputsch gegen den gewählten Präsidenten, und fast 3 Jahre nach seiner
Verurteilung zum Tode, und 2 Jahre nach seiner Hinrichtung durch den Strang.
Mit Beschluss des Assoziationsrates EG-Türkei vom Dezember 1995 wurde bekanntlich auf der Grundlage des Assoziationsabkommens mit der Türkei dann eine Zollunion
begründet. Der Europäische Rat Luxemburg vom Dezember 1997 - damals ist Roman Herzog Bundespräsident und Helmut Kohl Bundeskanzler - hatte die Beitrittsperspektive des
Assoziierungsabkommens bekräftigt und ausdrücklich festgestellt, dass die Türkei für einen Beitritt zur Europäischen Union in Frage kommt.
Heute stellt sich die Frage fürwahr anders als im Jahr 1963, und auch im Jahr 1995 und 1997. Eine säkulare, demokratische Türkei befindet sich in einem grundlegenden Reformprozeß und
hat seit 2 Jahren begonnen, sämtliche europäischen Standards auf breitester Basis zu implementieren. Diese Türkei soll nunmehr endgültig die Einladung zur Aufnahme von
Verhandlungen über den Beitritt zur Europäischen Union erhalten. Fürwahr - die Bundesrepublik des Kanzlers Konrad Adenauer hatte im Jahr 1958 keine Skrupel, die Mitgliedschaft
des Departements Algerien in der EWG zu akzeptieren, und damit Millionen Muslime als kolonisierte Mitglieder der EU aufzunehmen. Auch im Jahr 1963 schien es noch opportun zu
sein, der Türkei die Möglichkeit eines Beitritts in dem berühmt gewordenen Artikel 28 des völkerrechtlich bindenden Vertrages von Ankara festzuschreiben.
(*) Der Innsbrucker Politikwissenschafter Arno Tausch stellt sich in seinem aktuellen Türkei-Dossier nun die Frage nach der EU
-Verhandlungsreife der Türkei, und seine Antwort ist klar und eindeutig ein Ja zu bona-fide Verhandlungen, so wie sie auch mit den am 1. Mai 2004 der EU beigetretenen Staaten geführt
wurden. Nicht Wertungen, sondern Fakten müssen in der Türkei-Frage auf den Tisch, und die Fakten sprechen eine mehr als eindeutige Sprache.
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